Beim Bomben-Hugo und seiner Frau

Wie ich lernte Leute zu mögen, die ich eigentlich gar nicht mögen kann.

Hugo Graf, der Bomben-Hugo, im Jahr 1955
Hugo Graf im Jahr 1955. (Foto: Hans Heer/Fränkisches Volksblatt)

1993 heuerte ich als freier Journalist beim Fränkischen Volksblatt an. 1995 schickte die Redaktion mich zu einem Mann, den die Würzburgerinnen und Würzburger nur den „Bomben-Hugo“ nannten. Ein Porträt wollten die Kolleg:innen von ihm haben zum 50. Jahrestag der Zerstörung Würzburgs am 16. März 1945.

Ich empfand die Rituale zum 16. März als geschichtsvergessen und selbstgerecht, ich begegnete ihnen mit Misstrauen und Ekel. Der 16. März war – und ist – für mich die Quittung für Holocaust, Faschismus und Krieg. Wer über den Holocaust nicht redet, soll vom 16. März schweigen. Da hat aber niemand über den Holocaust gesprochen.

So saß ich an einem Abend im frühen März 1995 im Haus vom Bomben-Hugo und seiner Frau Irmgard und erwartete nichts Gutes.

Das waren die Grafs: gastfreundliche Leute, die ich auf Anhieb nicht leiden mochte, nicht nur wegen des Zusammenhangs mit dem 16. März. Sie erzählten und schwärmten von ihrer Freundschaft mit Freiherr von der Heydte, einem Würzburger Klerikalfaschisten, der eine finstere Rolle in der nazi-deutschen und bundesrepublikanischen Geschichte spielte.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit meiner Abscheu vor solchen Leuten wenigstens halbwegs sauberes journalistisches Handwerk abliefern könnte. Ich wollte nur weg, riss mich zusammen und blieb.

Die Grafs und ich hielten danach noch lange herzlichen Kontakt. Zu Weihnachten schickten sie mir Plätzchen, bis Mitte der 2000erjahre.

Das ist ihre Geschichte, wie ich sie 1995 aufgeschrieben habe:


Der Bomben-Hugo

Kriege dauern länger als in den Geschichtsbüchern steht. Noch heute kommt es vor, dass ein eiserner Gegenstand im Boden für eine Bombe gehalten wird. Solche Funde sind in Würzburg lange Zeit alltäglich. Von 1948 bis 1966 ist der Polizist Hugo Graf für diese mörderischen Hinterlassenschaften zuständig.

Da erzählen zwei die gleiche Geschichte und sie hört sich doch ganz unterschiedlich an. Wenn Hugo Graf von seiner damaligen Arbeit erzählt, dann scheint es sich vor allem um Anekdoten zu handeln, um hübsche, interessante Geschichtchen mit ein bisschen Nervenkitzel. Wenn seine Frau Irmgard erzählt, bekommt der Zuhörer schon eher eine Ahnung von dem, was er 18 Jahre lang machte:

Wird irgendwo in der Stadt etwas Verdächtiges gefunden, kommen die Leute zu ihm. Er klärt, ob es sich um Sprengstoff handelt, verständigt das Sprengkommando, wenn der Fund in einer kritischen Verfassung ist oder sammelt das Zeug ganz einfach ein und nimmt es mit.

Derweil wartet seine Frau zu Hause im Mittleren Neubergweg. Sie sitzt da mit den beiden Töchtern und betet, dass ihm nichts passiert. Wenn es just zu dieser Zeit unten in der Stadt knallt – sie sagt, „das kann man gar nicht beschreiben, wie es mir da gegangen ist“. Es knallt öfter, in den Weinbergen und anderswo.

Bombe auf dem Bau!

Graf weiß nicht mehr, wie oft er ausgerückt ist; es ist sehr oft. Das hat auch mit den einsetzenden Bautätigkeiten zu tun. Nach der Währungsreform ist es aufwärts gegangen, das Baugewerbe boomte. Nach der totalen Zerstörung der Stadt gibt es viel zu tun, viel mehr, als die Firmen und Handwerker bewältigen können. Es gibt nicht genug Arbeiter und nicht genug Maschinen. Jeder Bauherr ist glücklich, wenn er nach langem Warten einmal Fachleute auf dem Bau hat.

Die Freude ist vorbei, wenn eine Bombe in den Trümmern entdeckt wird. Die Arbeiten werden eingestellt, die Handwerker wechseln zu einer anderen Baustelle. Die Bauherren verzweifeln: Es kann lange dauern, bis die Handwerker wieder kommen.

Graf wird in solchen Fällen dringend gebraucht. Das nimmt bisweilen bizarre Formen an. Einmal dringt ein aufgelöster Bauherr bis zum Bett im Krankenhaus vor, in dem Graf wegen Nierensteinen liegt. Er redet auf Graf ein, eine Bombe sei gefunden worden, die Handwerker könnten nicht weiter machen. Frau Graf will ihn verscheuchen, den Bauherrn schreckt das nicht. Er fleht den Chefarzt an: „Können sie mir den Graf mitgeben?“ Der Chefarzt stellt es Graf anheim. Der geht mit.

Irmgard Graf erzählt, dass sich so etwas und Ähnliches oft ereignet hat. „Kaum hat der Vater am Sonntag einmal ein weißes Hemd angehabt und wir sind ein paar Schritte gewandert, schon ist ein Streifenwagen gekommen und hat ihn wieder zu einem Fund geholt.“

Der Respekt vor dem Kriegsgerät ist groß in dieser Zeit, nicht nur bei den Bauherren. Graf findet in seinem Tagebuch, das er über seine Einsätze führt, auch unnötige Aufregung. Zum Beispiel am 16. April 1956: „Auf Ersuchen des Amtsgerichtes Würzburg wurde dort eine Pistole von mir entladen, da keiner der am Gericht beschäftigten Herren mit dem Entladen der Pistole vertraut war.“

Nur ein bisschen Mut

Im Krieg besorgt er das Entschärfen der Sprengkörper noch selbst. Nach dem Krieg sammelt er in Würzburg die Bomben, Granaten, Patronen und was es alles gibt, bis genug zusammen gekommen ist. Dann kommt das Sprengkommando aus Nürnberg und nimmt das gefährliche Zeug mit. Im Nachkriegs-Würzburg gibt es nicht viele sichere Plätze, an den Graf seine Fundsachen zwischenlagern kann. Also nutzt er die Feldschutzhäuschen, die es damals noch gibt. Klammheimlich und unbemerkt bringt er das Material in die unbewachten Häuschen. Er zieht immer wieder damit um, um zu verhindern, dass etwas gestohlen wird. Einiges bringt er mit nach Hause, sehr zum Leidwesen seiner Frau.

„Ein bisschen Mut“ hat er gebraucht, erzählt er, „ein bisschen Glück und ein bisschen Verantwortungsgefühl“. Viel hat er nicht darüber nachgedacht, sagt er. „Mit Angst hätte ich diese Arbeit gar nicht machen können.“ – Irmgard Graf hat nachgedacht und das Vergangene ist ihr noch sehr präsent: „Mein Mann ist in dieser Beziehung ein bisschen ein Tiefstapler.“ Er grantelt ein wenig: „Was soll ich da auch hochstapeln?“

Schluss jetzt!

Irmgard Grafs Nerven halten das nicht mehr aus, diese Angst, wenn er weg ist, aber auch die Glückseligkeit, wenn er nach einem Einsatz wieder heil nach Hause kommt. Manchmal denkt sie, sie wird wahnsinnig. Dann sagt sie: „Schluss jetzt! Das muss einmal aufhören!“

Es fügt sich gut. Nach 19 Jahren wird der Schutzpolizist Hugo Graf für den gehobenen Dienst vorgeschlagen. Er steigt auf zum Polizeihauptkommissar und leitet die Polizeiinspektion West bis zu seiner Pensionierung 1980.

Hugo Graf kann (oder will) sich an vieles, was er in seinem aufregenden Beruf gemacht hat, nicht mehr erinnern. Dafür weiß er bis ins Detail Ort, Tag, Stunde und Umstände, unter denen er seine Frau kennen lernte. Wenn er von seiner Zeit als Bombensammler spricht, ist er zurückhaltend und unaufgeregt. Wenn er von seiner Hochzeit, vom Brautkleid aus Fallschirmseide, von den Blumen im prächtigen Garten oder den vielen besuchten Kirchen erzählt, spiegelt sich das Erlebte in seinem Gesicht wieder. Der Pensionär sprüht vor Freude und seine Frau nicht minder. Die Beiden sind lange Zeit und tief im Schatten gestanden. Umso mehr, so scheint es, genießen sie heute das Licht.


Nachtrag:

Ich weiß nicht, warum ich damals das Gespräch am Grafschen Wohnzimmertisch nicht näher beschrieben habe. Vielleicht habe ich es ja getan und die Redaktion hat es gestrichen.

Während Hugo Graf seine Anekdoten erzählte und die Gefahr herunterspielte, beobachtete ich seine Frau Irmgard, die immer unruhiger auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte, immer zorniger schaute, sich sichtlich etwas verkniff und dann doch explodierte.

Ihre Wortwahl weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass sie ihm heftige Vorwürfe machte, weil er alles schönrede, denn furchtbar sei das alles in Wirklichkeit gewesen. Er wiegelte ab, sie wurde immer zorniger. Ich meinte einen Streit zu erleben, wie er sich in den Fünfzigerjahren zwischen den beiden zugetragen hat.

Wie glückselig die zwei sich aber anstrahlten, als sie später von ihrem Kennenlernen, Verlieben und Hochzeitmachen erzählten!

Ich habe Irmgard Graf und ihren Bomben-Hugo dann doch sehr gemocht. Leider habe ich kein Foto von ihr.

Irmgrad Graf ist im Jahr 2007 gestorben, Hugo Graf im Jahr darauf.


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