Leonhard Frank und die Jünger Jesu

Wie ein Schriftsteller und Antifaschist Würzburg beschrieben hat und besser traf, als er wissen konnte

Leonhard Frank, Schriftsteller aus Würzburg
Leonhard Frank. (Quelle: Wikipedia)

Leonhard Frank, aufgewachsen im Mainviertel, berühmt geworden in Berlin, hatte Frauen, Autos und Geld. Zweimal flüchtete er ins Exil: 1915 als Pazifist, 1933 als Antifaschist. Er ist ein Sozialist und Pazifist, ein Gentleman und einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit.

Als er 1950, nach 17 Jahren Exil, nach Würzburg kommt, fühlt er sich wie ein Handlungsreisender, dessen Ware nichts taugt. Die Nazis haben in ausgebürgert und seine Bücher verbrannt, die junge Bundesrepublik will nichts von ihm wissen. Er meint, Hitler habe über ihn gesiegt.

Zwei Jahre vergehen nach der Zerstörung Würzburgs, bis er im Frühjahr 1947, im New Yorker Asyl, von ihr erfährt. Im autobiografischen Roman „Links wo das Herz ist“, erschienen 1952, schildert er diesen Moment. „Der Schlag traf ihn (sein Alter Ego Michael Vierkant, W.J.) mitten ins Gefühl und erschlug sein Gefühl. Er war innerlich taub. Sein Schmerz (…) glich dem eines Menschen, der den Schmerz im amputierten Arm noch spürt. Ein gefühlsbeladener Teil seines Lebens war für immer weggewischt.“

Drei Romane zum Ruhme Würzburgs. Und „Die Jünger Jesu“

Mit vier Romanen setzt er Würzburg ein Denkmal. Mit dreien schmücken sich die Würzburger: „Die Räuberbande“, erschienen 1914, „Das Ochsenfurter Männerquartett“ (1927) und „Von drei Millionen drei“ (1932). Mit dem vierten, „Die Jünger Jesu“, 1949 erschienen, sticht er in ein Wespennest. Er macht seine Heimatstadt zum Schauplatz eines Romans über Deutschland unmittelbar nach dem Krieg.

An seinem Schreibtisch an der amerikanischen Ostküste verbindet Frank vier Erzählstränge: Eine Knabenbande, die sich „Jünger Jesu“ nennt, bestiehlt im Nachkriegs-Würzburg die Reichen und beschenkt die Armen. Nazis kommen aus ihren Löchern gekrochen. Eine junge deutsche Frau verliebt sich in einen US-amerikanischen Soldaten. Eine jüdische Würzburgerin, erst verschleppt nach Auschwitz, dann in ein Bordell für deutsche Soldaten, kehrt zurück, um den Mord an ihren Eltern zu rächen.

Ein riskantes Unternehmen

Hans Steidle, Würzburgs Stadtheimatpfleger und profunder Frank-Kenner, meint, der Schriftsteller aus dem Mainviertel sei auf Würzburg als vertrauten, „erinnerten und erlebten Raum angewiesen“ gewesen, „wie Böll auf das Rheinland und Köln.“ In einem Aufsatz, veröffentlicht im Heft 3 der Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, nennt er „Die Jünger Jesu“ ein „riskantes Unternehmen“. Grund: Der Autor schreibt aus der Ferne, im 17. Jahr des Exils, über das Leben in den Ruinen und die Folgen von Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust.

Frank startet mit einem Fehler in den Roman: „Das SS-Kommando hatte die Forderung des amerikanischen Generals, die Stadt kampflos zu übergeben, abgelehnt und gegen den Willen der machtlosen Einwohnerschaft den Widerstandsbefehl erlassen, obwohl nichts mehr zu ändern gewesen war.“

Das ist falsch. Britische Bomberpiloten, nicht amerikanische Soldaten, zerstörten Würzburg. Dieses SS-Kommando samt verheerendem Widerstandsbefehl gab es nicht.

Steidle analysiert: Frank sei mit Informationen konfrontiert gewesen, die er sich „nur aus der Distanz und in der Fantasie vergegenwärtigen konnte“. Aber das interessierte die Kritiker nicht. Die bestanden darauf, dass kein SS-General die Zerstörung der Stadt verschuldet hat.

Die Realität war fantastischer als der Roman

Einer von ihnen ist Anton Meyer, der Kulturredakteur der Main-Post. Im August 1952, kurz vor Franks 70. Geburtstag, verreißt er „Die Jünger Jesu“. Er nennt Frank einen „Tendenz-Schriftsteller, der im Würzburg von 1947 schon wieder die SA marschieren und die HJ exerzieren sah“. Frank beuge die dichterische Freiheit „allzu sehr“, das beginne „mit dem sagenhaften SS-Kommando“ und ende mit dem Übertritt der „Jünger Jesu“ in die sozialistische Jugend.

Eine Besonderheit von „Die Jünger Jesu“ ist, dass der Roman auch da wahrhaftig ist, wo er faktisch daneben liegt.

Am 1. April 1945, der Krieg war verloren, Würzburg zerstört und die amerikanische Infanterie nahe, als Otto Hellmuth, der NS-Gauleiter, die Würzburger aufrief, Panzersperren zu bauen und sich „kampfbereit mit hasserfülltem Herzen hinter sie zu stellen“. Wer verwundet in Gefangenschaft gerate oder sich nicht bis zum letzten Atemzug verteidige, verliere seine Ehre. „Die Angehörigen stehen mit ihrem Leben für den Verräter.“ So befahl Hellmuth. Dann türmte er.

Möglicherweise wäre Frank die Realität, hätte er sie gekannt, zu fantastisch gewesen für seinen Roman.

Frank macht Würzburg zum Symbol für Deutschland

Steidle argumentiert, natürlich habe nicht der SS-General mit seiner Kapitulationsverweigerung Würzburgs Zerstörung veranlasst. „Aber die Weigerung NS-Deutschlands den Krieg zu beenden, war die Ursache für den Untergang des alten Würzburgs“.

Die Kritiker erbosen sich, weil Frank die Geschichte vom nationalsozialistischen Mob erfindet, der auf dem Marktplatz Juden erschlägt. Das ist tätsächlich nicht geschehen. Aber es gibt eine würzburgische Tradition des Judenmordes. Im Mittelalter steht das Getto, wo heute der Marktplatz ist. Hier erschlagen Kreuzritter und christliche Würzburger im Jahr 1298 etwa 900 jüdische Nachbarn. Weitere Pogrome folgen. Nazis und ihre Mitläufer ermorden mehr als 2000 jüdische Mainfranken in den Vernichtungslagern.

„Würzburg, am Main, die Stadt des Weines und der Fische, der Kirchen, gotisch und barock, wo jedes zweite Haus ein unersetzlichen Kunstdenkmal war, wurde nach dreizehnhundertjährigem Bestehen in fünfundzwanzig Minuten zerstört. Den folgenden Morgen floss der Main, in dem sich die schönste Stadt des Landes gespiegelt hatte, langsam und gelassen durch Schutt und Asche, hinaus in die Zeit.“

Mit diesem, dem zweiten Absatz des Romans, zeigt Frank, wie sehr er Würzburg zugetan ist.

Franks Kritiker verstehen „Die Jünger Jesu“ ganz genau

Die Schilderung der Bubenbande, der „Jünger Jesu“, ist eine Liebeserklärung an die Stadt. Würzburg muss wohl großartig sein, wenn es solche Jungs hervorbringt: listig, tatendurstig, komisch, mitfühlend. Die Beute ihrer Diebeszüge – vor allem Lebensmittel und warme Kleidung – schaffen sie unerkannt in die Behausungen der Bedürftigsten. Sie lassen sich von einem US-Captain belehren, dass ihr Tun Unrecht sei, und treten in die sozialistische Jugend ein.

Frank, der Sozialist, beendet „Links wo das Herz ist“ mit einem Glaubensbekenntnis, nach dem „die Verselbstständigung der guten Eigenschaften des Menschen unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht möglich ist“. Der Mensch werde erst menschlich sein, „wenn er durch nichts mehr gezwungen wird, unmenschlich zu sein“. Er glaubt, „dass die Haben-haben-haben-Wirtschaftsordnung (…) im Jahre 2000 abgelöst sein wird durch die sozialistische Wirtschaftsordnung“. Vor Irrtümern ist er nicht gefeit.

Seine Kritiker hassen „Die Jünger Jesu“ nicht, weil sie den Roman falsch verstehen. Im Gegenteil: Sie haben ganz genau begriffen, worum es geht.

„So eine Stadt bringt Böse hervor“

1914, als Franks gefeierter Debütroman „Die Räuberbande“ erscheint, kennen nur wenige seine politische Gesinnung. Die Würzburger nehmen hin, wie er auf ihre Kosten die Existenz eines sadistischen Lehrers erklärt: 

„Der Katholizismus, die Klöster, Mönche und Priester, die engen Kurven der Gassen mit den feuchten Schatten, die gotischen Kirchen, die hohen, grauen Mauern, aus denen unvermittelt gotische Fratzenbildwerke springen, all dies zusammen wirkt auf den Menschen von Jugend an. So eine Stadt bringt Böse hervor, die schon als siebenjährige Kinder Sünden beichten mussten. Verblödete, religiös Irrsinnige, Ehrgeizige, bucklig Geborene, heimliche Mörder, Krüppel, Asketen, Kinderschänder … auch Künstler. Und Menschen wie den Lehrer Mager …“

Mehr als 40 Jahre später empören sich Franks Gegner, weil er in „Die Jünger Jesu“ die Liebe zwischen einer Deutschen und einem US-Soldaten beschreibt. Das ist ein Verstoß gegen die Moral. Beziehungen ohne Trauschein gelten als unsittlich. Vollkommen unvorstellbar sind sie mit Angehörigen der Besatzungsmacht. Kulturredakteur Meyer entdeckt und beklagt zudem „eine schwüle Sexualität“. Franks Überzeugung, dass Liebe wichtiger sei als alle Konvention, wirkt abstoßend auf die christlich-konservative Mehrheit in Würzburg.

CSU, Kirche und Main-Post gegen Leonhard Frank

1952 will das Stadttheater sein Drama „Karl und Anna“ auf die Bühne bringen. Der Soldat Karl sucht nach dem Krieg die Ehefrau seines totgeglaubten Kameraden Richard auf und gibt sich als ihr Mann aus. Sie nimmt ihn als Gatten auf – bis Richard heimkehrt. CSU und katholische Kirche protestieren, es kommt zum Eklat.

Meyer schreibt, Frank verhöhne die christliche Ehe, die Ehre der Kriegsgefangenen und ihrer Ehefrauen. Die CSU versucht, die Aufführung zu verhindern. Erfolglos.

Mit seiner Beschreibung der nationalsozialistischen Kontinuität in Würzburg macht Frank sich verhasst bei den alten Volksgenossen, die sich in der Demokratie eingerichtet haben. Wie zahl- und einflussreich sie sind, wird viel später, in den 1960er Jahren klar, als der Nervenarzt Elmar Herterich die NS-Aktivitäten und -Affinitäten Würzburger Honoratioren aufdeckt.

„Würzburg wird von einer nationalsozialistischen Clique terrorisiert“

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der Jäger des NS-Verbrechers Adolf Eichmann und Chefankläger in den Auschwitz-Prozessen, berichtet einer dänischen Tageszeitung, Würzburg werde „von einer nazistischen Clique terrorisiert“Stern, Spiegel, Zeit und die internationale Presse berichten in großen Geschichten. Der Kölner Stadt-Anzeiger bringt eine mehrteilige Serie unter dem Titel „Wie braun ist dieses Würzburg?“.

Bedrückend ist Franks Schilderung der Jüdin Ruth Freudenheim, der Heldin in „Die Jünger Jesu“. Als sie nach der Befreiung zurückkehrt, entschlossen, den Mörder ihrer Eltern zu töten, ist sie, schreibt Frank, „in unermesslichem Entsetzen abgestorben. Der Körper war zwei Jahre in dem Haus gewesen. Ihr Körper war nicht mehr sie. Sie war nicht mehr. Nichts auf der Welt hätte sie zum Weinen bringen können. Nichts mehr bewegte sie. Sie war etwas, das es vor der Naziherrschaft nicht gegeben hatte. Ruth war eine wandelnde Tote.“

Der Stadtrat verweigert Frank einen großen Empfang

Im Exil, 14 Jahre vor dem Beginn der Auschwitz-Prozesse, 18 Jahre vor „Die Unfähigkeit zu trauern“ der Mitscherlichs, gelingt ihm die Beschreibung der verheerten Seelen von Nazi-Opfern. Da profitiert er von Begegnungen mit dem österreichischen Psychoanalytiker Otto Groß, einen Schüler Sigmund Freuds.

Von ihm übernahm er zwischen 1904 und 1910 einen tiefenpsychologischen Ansatz der Weltbetrachtung, wonach alle Einflüsse aus der Umwelt die Psyche von frühester Kindheit an prägen. Nach dieser Lehre führen traumatische Erlebnisse, Demütigungen und Unterdrückung zu persönlichen Verdrängungen und psychischen Deformationen.

Als Frank 1950 aus dem Exil nach Würzburg zurückkehrt, besucht ihn Oberbürgermeister Franz Stadelmayer im Hotel. Der Stadtrat verweigert einen großen Empfang. 1952 beschließt die Räte einstimmig, Frank die Silberne Stadtplakette zu verleihen. Die Zeremonie findet nicht im Rathaus statt. Das ging der CSU dann doch zu weit. Die Festgesellschaft weicht ins Studentenhaus aus.

Er erklärt es nicht den Hütern der Ehre Würzburgs

In „Links wo das Herz ist“ schreibt er, sein Alter Ego Michael Vierkant „versagte es sich, die Herren der Zeitung und die üblichen Verwalter der Ehre Würzburgs zu fragen, ob es ein Verbrechen sei und eine Verunglimpfung Würzburgs, die Schandtaten des Naziregimes zu brandmarken und damit auch zugleich darauf hinzuweisen, dass die Meinung der Welt, das deutsche Volk habe in seiner Gesamtheit diese Schandtaten begangen, eine Weltlüge war. Er versagte es sich, den Hütern der Ehre Würzburgs zu erklären, dass der Mörder schuldig ist und nicht derjenige, der den Mörder des Mordes beschuldigt. (…) Jeder Leser in Würzburg konnte nach der Lektüre der ,Jünger Jesu‘ wissen, wenn er guten Willens war, dass in diesem Roman nicht Würzburg und die Würzburger gebrandmarkt sind.“

Leonhard Frank zieht nach München, wo er 1961, knapp 79 Jahre alt, stirbt.

Literaturtipp

Frank, Leonhard: Die Jünger Jesu. Königshausen & Neumann, Würzburg, 2013

Frank, Leonhard: Links wo das Herz ist. Aufbau-Verlag, Berlin, 2014

Hay, Gerhard: Leonhard Frank. Selbstzeugnisse und Aussagen. Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, Heft 1, Würzburg 1982

Leonhard-Frank-Gesellschaft: Ausführliche Bibliografie der Werke Leonhard Franks, erstellt von der Abteilung für Fränkische Landeskunde der Universitätsbibliothek Würzburg

Leonhard-Frank-Gesellschaft: Heft 3. Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, Würzburg 1992

Leonhard-Frank-Gesellschaft: 20 Jahre Leonhard-Frank-Gesellschaft, Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, Heft 10, Würzburg, 2002

Leonhard-Frank-Gesellschaft: Neue Beiträge zu Leonhard Frank von Peter Cersowsky, Hannes Schwenger, Hans Steidle. Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, Heft 13, Würzburg 2003

Sparre, Sulamith: Der wandernde Schreibtisch. Erfahrung, Bewältigung und Folgen des Exils bei Leonhard Frank, Soma Morgenstern und Max Zweig. Ein Vergleich. Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, Heft 16, Würzburg 2005


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