Mein Knall: Basketball

Wie mir mal beim Sinnieren über den geilsten Sport der Welt die Sicherungen durchgeknallt sind und mein Bruder Norbert alles abbekam

Basketball

Mitten im April 2000, mitten in der Nacht. Im schummrigen Arbeitszimmer surft einer durch das Internet. Der Mann, ein Würzburger, gewöhnlich rechtschaffen, fälscht das Ergebnis einer Umfrage. Es geht um die Frage, ob die Basketballer von Herzogtel Trier gegen die Basketballer der DJK s. Oliver Würzburg gewinnen werden. Knapp zwei Drittel der Basketballfans tippen auf der Homepage der Telekom Baskets Bonn auf einen Sieg der Trierer. Nach einer Viertelstunde Arbeit am Computer lautet das Ergebnis: 42 Prozent für Trier, 58 Prozent für Würzburg.

Ich war das.

Dass der Datendreh nicht recht war, wusste ich. Dass die Würzburger deshalb nicht gewännen, wusste ich auch. Warum ich es trotzdem machte, kann ich nicht erklären. Basketballfieber!

Ich war nicht allein. Die Basketballer der DJK s. Oliver waren die Lieblinge des Würzburger Sportpublikums. Zu den 14 Heimspielen der 1. Bundesliga kamen in der Spielzeit 1999/2000 fast 35.000 Zuschauer in die Halle. Ein Jahr später waren es über 40,000. Das war absolute Spitze im Würzburger Sport. Und das trotz gesalzener Eintrittspreise: Ein guter Tribünenplatz kostete 28 Mark, ein Stehplatz immer noch 23 Mark. Basketball-Fans in Würzburg waren etwa sechs bis 55 Jahre alt und fast zur Hälfte weiblich – ungewöhnlich bei einer Ballsportart.

Ein einziger emotionaler Rausch

E-Mail, betreffend das Spiel der DJK s. Oliver Würzburg, genannt die X-Rays, gegen den deutschen Rekord- und damaligen Vizemeister Bayer Leverkusen, an meinen Bruder Norbert: „… Wir standen schon seit vielen Minuten. Die Hände taten weh, die Stimmbänder waren rau wie Reibeisen, wir waren von Glücksgefühlen durchströmt, wir waren ganz und gar mit unseren Jungs verschmolzen, hirnlos wie die Tiere, in einem einzigen emotionalen Rausch. Norbert, es war wie Sex. Die X-Rays hatten die Leverkusener in der zweiten Halbzeit mit einem Sturmlauf und spektakulären Aktionen vom Fließband in ein kurzschnäufiges Häufchen Elend verwandelt. ‚Die Riesen vom Rhein wurden zu den Zwergen vom Main‘, meinte die Main-Post ganz richtig.“

Die Würzburger:innen hatten eine der jüngsten Mannschaften der Liga. Die DJK s. Oliver Würzburg hatte auch einen der kleinsten Etats der Liga. Aus der Not machte sie eine Tugend: Sie förderte intensiv den Nachwuchs. Zum Trainerstab gehörte der Rekord-Nationalspieler und Mentor Dirk Nowitzkis, Holger Geschwindner, der für das Individualtraining zuständig war. In ihrem ersten Bundesliga-Jahr, 1998/99, ist die Mannschaft unter 14 Teams auf den sechsten Platz gestürmt.

Infernalisch, frenetisch, spektakulär

Es gab keine Hooligans beim Basketball. Bis auf kleine Neckereien gingen die Anhänger:innen der Mannschaften fair miteinander um. Aber sie waren leidenschaftlich, mit viel Show, Musik und Ritualen in der Halle. Bevor die Würzburger Spieler auf das Feld kamen, ging in ihrer Halle das Licht aus. Die meist etwa 3000 Zuschauerinnen und Zuschauer zündeten Wunderkerzen an und erhoben sich von den Plätzen.

Aus überforderten Hallenlautsprechern krachte laute Musik. Trommeln wurden rhythmisch geschlagen, wer keine Wunderkerze hatte, klatschte in die Hände. Suchscheinwerfer suchten die Spieler, die aus einem Trockeneisnebel heraus auf das Spielfeld liefen. Der Hallensprecher rief sie bei ihren Namen, aber im infernalischen Lärm verstand niemand was. Jeder wurde frenetisch bejubelt.

Alle waren da, das Licht ging wieder an, die Fans setzten sich. Sie standen wieder auf, als das Spiel endlich begann, und feuerten die X-Rays mit rhythmischen Klatschen an, so lange, bis sie ihren ersten Korb geworfen hatten. Jede spektakuläre Aktion riss die Leute von den Sitzen. Wenn das Spiel halbwegs gut lief, stand das Publikum ständig.

Die fliegenden Menschen vom Main

Die Fans waren enthusiastisch. Nach einer Niederlagenserie fuhren im Jahr 2000 rund 1200 Würzburger:innen mit ihrer Mannschaft in einem Sonderzug nach Frankfurt, um sie in einem Pokalspiel anzufeuern.

Warum machten die Leute so was? Unter anderem deswegen: Die Spieler waren muskelbepackte Riesen. Der kleinste, Demond Greene, war 1,85 Meter groß, der größte, Burkhard Steinbach, maß 2,12 Meter. Und trotzdem waren sie – mit Ausnahmen – schnell, elegant und geschmeidig. Das Tempo, die schnellen Pässe, die gewaltigen Sprünge, die verblüffende Ballsicherheit, die weiten Würfe auf den kleinen Korb, die permanente Aktion: Das ganze Spiel war spektakulär. Und die Würzburger waren es besonders.

Die Sportreporter der Tageszeitungen beschrieben die DJK s. Oliver Würzburg als das athletischste und spektakulärste Team der Liga. Der Trierische Volksfreund ließ sich dazu hinreißen, die Würzburger als „die fliegenden Menschen vom Main“ zu beschreiben und ihren nigerianischen Centerspieler Olumide Oyediji als „funkelnden Stern Afrikas“.

„Unvergesslich“ nannte die Bonner Rundschau den Auftritt der X-Rays beim Vizemeister der Saison 98/99, Telekom Baskets Bonn. Oyediji ist der zweite Spieler, der von den X-Rays aus in die NBA zog um sein Glück zu machen. Durchsetzen konnte er sich allerdings nicht bei den Seattle SuperSonics.

Von Himmelhochjauchzend nach Zutodebetrübt

Die Saison 1999/2000 lief für die Würzburger wie eine griechische Tragödie. Sie konnten so großartig und wild spielen wie sie wollten und verloren doch. Sie verloren 14 der letzten 16 Spiele in der Hauptrunde, die meisten ganz knapp. Monatelang hatten sie das Publikum innerhalb weniger Spielminuten von Himmelhochjauchzend nach Zutodebetrübt geschickt. Ein Platz unter den ersten sechs war anvisiert, der zwölfte war es geworden. Die jungen Helden entrannen nur knapp dem Abstieg.

Dabei erzählten die Statistiken tolle Geschichten: Die X-Rays hatten mit Olumide Oyediji den besten Rebounder der Liga und mit Robert Garrett den besten Korbschützen. Marco Laine war der achtbeste Drei-Punkte-Schütze der Liga. Kein Team holte sich so viele Rebounds wie die Würzburger, nur drei Mannschaften blockten noch mehr Korbwürfe und kein Spieler der Liga machte das besser als Oyediji. Nur zwei Mannschaften erzielten noch mehr Punkte.

Aber: Keine Mannschaft verpatzte mehr Freiwürfe als die Würzburger. Nur eine Mannschaft spielte noch weniger Pässe, die zu einem Korberfolg führten. Und nur zwei Mannschaften ließen noch mehr gegnerische Korberfolge zu.

Als die X-Rays im letzten und entscheidenden Spiel der Hauptrunde, nach 18 Niederlagen in 25 Spielen, den Pokalsieger, die Frankfurt Skyliners, in spektakulärer Manier vor ausverkauftem Haus besiegt hatten, träumten die Fans am Rande des Abgrundes schon wieder von der deutschen Meisterschaft.

Das kann sich kein Mensch vorstellen

In der Saison 2000/2001 sind die X-Rays in der Hauptrunde Fünfte geworden.

Jetzt, im Viertelfinale der Play-Offs um die Deutsche Meisterschaft, steht es zwei zu eins für Avitos Gießen. Würzburg muss das vierte Spiel gewinnen, um ein weiteres, alles entscheidendes Spiel gegen Gießen zu erzwingen. Gewännen sie es, zögen sie in das Halbfinale ein.

E-Mail an Norbert Jung am Dienstag, den 15. Mai 2001:

„Norbertnorbert,

morgen, wahrscheinlich, vielleicht auch nicht, wird mein Kopf wieder so klar sein, dass ich mich ganz Dir zuwenden kann, Deinem Urlaub, Deinem Job, Deinem Alles. Jetzt geht das einfach nicht. Es geht einfach nicht.

Norbert, Euphorie ist in der Stadt!!! Der Kartenvorverkauf läuft wie irre, der Fan-Club hat den Bus für Donnerstag gechartert, man muss sich jetzt schon anmelden.

Apropos, der Bus. Der Bus ist eine Schuhschachtel für 50 Leute. So ein Thrombosen-Schnauferl. Dieser unser Bus, der uns, die wir bange waren, zum dritten Playoff-Spiel nach Gießen brachte und siegestrunken wieder zurück, dieser Bus hat Geschichte. Der Busfahrer hat sie uns erzählt, weil auf der Rückfahrt das Gemotze über die Dieselgurke nicht aufhörte.

Dieser Bus hat 50 durchgeknallte Bayern-Fans von München nach Manchester und wieder zurückgebracht, Du weißt schon, zum historischen Eins-zu-Null-Sieg. Das Gemecker hörte sofort auf, als die ehrfürchtig staunende Gemeinde das hörte. Dann begannen die Youngstars zu singen: „Wir sind stolz auf unsern Bus, halleluja!“

Gestern Abend habe ich den Kollegen von der Süddeutschen ganz kirre gemacht. Der kommt heute auch, um von der Einzigartigkeit der würzburgischen Emotionalität zu berichten. Er erwartet bloß ein Weltwunder. Mit dem, was heute Abend los sein wird, rechnet er nicht. Das kann sich kein Mensch vorstellen. O Mann, ich habe auch keine Ahnung von dem, was heute Abend los sein wird, aber mir zittern jetzt schon die Hände und ich muss noch einen ganzen Tag lang arbeiten, bis es so weit ist.

Stell Dir vor, wir gewinnen das! Zweite Verlängerung, letzte Sekunde, fünf Gießener gegen Burkard Steinbach, wir sind zwei Punkte hinten, Burkard holt den Defensiv-Rebound die Gießener liegen nach dem Kampf um den Rebound am Boden), er springt raus aus der Zone, wirft von jenseits der Dreierlinie, die Schlusströte trötet, wir halten den Atem an, mucksmäuschenstill ist‘s plötzlich, nur ein Baby weint, die Augen treten uns aus den Höhlen, wir stehen stocksteif in der Bewegung erstarrt, das Adrenalin auf unser Haut gefriert im Schock zu Eis, der Ball fliegt und fliegt und fliegt, es dauert Stunden und siehe!, er nähert sich dem Korb, Mensch!, das sieht gut aus, das sieht gut aus, ein Orkan erhebt sich, das sieht gut aus!!!, der geht raaaaaaaiiiiiiiiiiinn! JAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!

Wahnsinn, was?“

Der Traum ist aus. Der Traum geht weiter.

Einen Tag später. Die Würzburger haben verloren. Sie sind aus dem Wettbewerb um die Meisterschaft ausgeschieden. E-Mail an Norbert Jung:

„Ich hätte heute ausschlafen können. Keine Termine. Muss nur schreiben. Um 2 Uhr sowas bin ich eingeschlafen, um 7 bin ich aufgewacht. Ich träumte im Wachen von diesem unglaublichen Abend gestern Abend. Spielzüge, Körbe, Steals, Airballs, Lommerses fantastische Verteidigung gegen Musch, ganz viel Zeug. Auch vom Publikum. Das war noch besser als beim entscheidenden Aufstiegsspiel gegen Freiburg, damals. In der zweiten Halbzeit ist niemand mehr gesessen. Unvergesslich.

Ich bereue jetzt alle Übertreibungen aus den vergangenen Jahren. Jetzt habe ich nichts mehr, um diese Euphorie, dieses Brüllen, Trommeln, Pfeifen, rhythmische Klatschen, fast pausenlos, zu beschreiben. Keine Gesänge. Nur Defense! Defense! Defense! und Hey! Hey! Hey!, aber das megalaut, leidenschaftlich, stimmbandaufreibend, ohne Unterbrechung. Ich kann mir nicht vorstellen, was anders sein wird, wenn wir in zwei, drei Jahren um die Meisterschaft spielen.

Es war toll bis wenige Sekunden vor Schluss.

Es war auch danach irgendwie toll, weil wir eine tolle, tolle Mannschaft haben. Ein paar Götter haben geweint, andere standen einfach nur erschlagen und tief enttäuscht da und ließen die Köpfe hängen. Die Gießener Spieler sind zu ihnen gegangen, haben sie nach vier knüppelharten Play-Off-Spielen in den Arm genommen und getröstet. Im Publikum gab es welche, die nicht aufhörten zu klatschen, andere saßen oder standen rat- und ausdruckslos da, einige weinten, ein paar warfen ihre Plastikflaschen und Tröten aufs Spielfeld (die Schiris waren oberscheiße!), wieder andere standen im Foyer, Hunderte vor dem Ausgang, ratschend, analysierend, sich freuend über eine gigantische Saison. Wir sind dann zu viert noch in die Kneipe gegangen. Waren am Anfang guter Laune, versanken dann doch in Melancholie.

Die Dauerkarte für die neue Saison hatte ich schon am Montag bestellt.

Hoffentlich bleibt die Mannschaft zusammen!

W.“


siehe auch: Dirk Nowitzki, großer Basketballer | Warum ich kein Autogramm von einem der besten Basketballer aller Zeiten habe und auch keines haben will


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