Roland Flade, Historiker und Journalist

Wie einer erst keinen Plan hatte und dann Würzburgs Geschichtsschreibung demokratisierte

Roland Flade im Dezember 2015 im Würzburger Ratssaal während seiner Rede zur Verleihung der Kulturmedaille. (Foto: Theresa Müller/Main-Post)

Arm dran sind die Geschichtslaiinnen und -laien, die lesen müssen, was Historikerinnen und Historiker ihnen vorsetzen. Sie sitzen – in der Regel – ohne Übersetzung vor fremdsprachigen Zitaten, finden komplexe Zusammenhänge nur angedeutet und scheinbar Nebensächliches verquast ausgewalzt. Fachleute schreiben für Fachleute und Lai:innen resignieren.

Roland Flade, Historiker und ehemalige Main-Post-Redakteur sagt, im angelsächsischem Sprachraum sei das anders. Da gebe es eine große Tradition von Historiker:innen, die „lebhaft und gut schreiben“. Die würden „nicht verachtet wie in Deutschland“.

Seit über 30 Jahren betreibt Flade eine Geschichtsschreibung in angelsächsischer Tradition. Im Dezember 2015 ehrte die Stadt ihn mit ihrer Kulturmedaille.

Der Erstling: „Es kann sein, dass wir eine Diktatur brauchen“

Auf privaten Fotos schaut er drein wie ein Träumer. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, lächelt er verklärt. So sei er eben auch, sagt er. Es ist nicht einfach, ein Foto von ihm zu schießen, das ihn als den zeigt, als den ihn Geschichtsinteressierte und Zeitungsleser kennen. Vor der Kamera wird er weich.

Roland Flade hat die Würzburger Geschichtsschreibung demokratisiert.

1983 erschien im Pupille-Verlag sein erstes Buch; für viele wurde es der Einstieg in die Geschichte Würzburgs. Es heißt „Es kann sein, dass wir eine Diktatur brauchen“. Flade setzte sich mit Würzburg während der Weimarer Republik auseinander.

Keine Rücksichten mehr

Bis dahin verharmlosten Würzburger Nachkriegs-Geschichtsschreiber nationalsozialistische Schandtaten und verschwiegen braune Gesinnung, vermeintlich honorige Seilschaften aus alten Tagen hielten. Ausnahmen machten drei Gymnasiallehrer: Paul Pagel und Christian Roeding zeigten die Ausstellung „Würzburg im Dritten Reich“, Werner Dettelbacher schrieb Bücher und Aufsätze, nannte allerdings seine Quellen nicht.

Dann kam Flade und nahm keine Rücksichten. Er zeigte Würzburgs Weg in den Nationalsozialismus auf, nannte Täter und Taten und beschrieb das Leid ihrer Opfer. Er schrieb, wie Angelsachsen es tun: wissenschaftlich fundiert und lebhaft und gut.

„An Dramatik kaum zu überbieten“

Zahlreiche Bücher und Aufsätze folgten. Er erforschte die Geschichte der jüdischen Würzburger:innen und der Sinti-Familie Winterstein, ließ Würzburger:innen selbst erzählen in „Mein Würzburger Jahrhundert“ und „Meine Jugend in Würzburg“, schrieb über den 16. März 1945 und über Würzburg in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, über das Hubland – an irgendeinem Projekt arbeitet er neben seinem Vollzeit-Job immer, sein Œuvre ist umfangreich.

Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche Zeitung, Zeit und Handelsblatt, New York Times und viele andere besprachen seine Arbeiten als „gewichtig“, „tiefgründig“, „Muster für weitere Studien“, „höchst informativ“ oder „an Dramatik kaum zu überbieten“.

Inspiriert von Willy Brandt

Geplant war das nicht.

Flade, Jahrgang 1951, gebürtig aus einer Aschaffenburger Kleinbürgerfamilie, hat Anglizistik und Geschichte studiert. Die Eltern war unpolitisch, Sohn Roland auch. Sein politisches Erweckungserlebnis war der Besuch Willy Brandts in Erfurt am 19. März 1970.

Seine gesamte politische Entwicklung, sagt er, habe „ganz viel mit Willy Brandt zu tun“, der „auch keine goldene Kindheit gehabt“ habe und „30 Jahre lang in Deutschland klein geredet und verachtet wurde“. Brandt hat Flade inspiriert.

Der Nationalsozialismus interessierte ihn nicht weiter, seine Zulassungsarbeit schrieb er über den Vietnam-Krieg als Medienphänomen. Nach dem Studium arbeitete er gut zwei Jahre lang für die Main-Post in Bad Kissingen, dann kündigte er, um seine Doktorarbeit zu schreiben, wieder über den Vietnam-Krieg.

Keine Perspektive und keine Ahnung

Die Hürden erkannte er zu spät: kein Geld für einen halbjährigen Studienaufenthalt in den USA, keine Lust, die eben geheiratete Gattin alleine zu lassen, fehlende soziologische und publizistische Vorkenntnisse.

Im Sommer 1980 saß er ohne Perspektive in einem Café am Marktplatz, schlug die Main-Post auf und las, dass die Stadt einen Historiker suche, der die Geschichte der jüdischen Würzburger:innen erforscht. Flade hatte keine Ahnung von jüdischer und Würzburger Geschichte, dachte aber, „das könnte was sein“ und griff zu. Seine Doktorarbeit entstand daraus.

35 Jahre später sagt er, die Stadt habe ihm den Anstoß gegeben „zur befriedigendsten Sache außerhalb der Main-Post und meinen privaten Beziehungen: ein Ding, das nun seit fast 35 Jahren läuft und nie aufhören wird, solange ich schreiben und denken kann“.

Hin und weg vom Echolot

1997 besuchte er eine Lesung von Walter Kempowski, der sein Echolot vorstellte. Kempowskis Mammut-Werk ist eine zehnbändige Collage aus Lebensgeschichten, Tagebüchern, Fotografien und Briefen von unterschiedlichsten Menschen im Deutschland der Jahre 1943 bis 1945. Flade berichtet: „Ich war hin und weg! Ein grandioses Projekt!“ Am selben Abend habe er beschlossen: „So ein Echolot mache ich für Würzburg.“

Und so ist 1998 das Buch „Unser Würzburger Jahrhundert“ erschienen, mit Alltagsgeschichten aus den ersten 90 Jahren des 20. Jahrhunderts.

Flade hat von Beginn an die Geschichte und Geschichten der „kleinen“ Leute aufgeschrieben. Nun ist er einen Schritt weitergegangen: Er ließ sie selbst erzählen. Er sagt, das Sammeln und Abtippen von Berichten von Augenzeuginnen und Augenzeugen sei ihm „das Allerliebste“.

Viele Journalist:innen reagieren in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts distanziert auf den ständigen technischen Wandel. Flade dagegen erkannte rasch die Möglichkeiten, die Social-Media-Portale wie Facebook, Twitter und YouTube bieten.

Die Arbeit geht weiter

Auf Facebook zitiert er täglich aus Tagebüchern und Berichten, was auf den Tag genau vor 70 und 100 Jahren in Würzburg geschah. Auf seinem YouTube-Kanal zeigt er kurze Dokumentarfilme: aus dem alten Würzburg, von einem Besuch in Tschernobyl, von den Bewohnern der Klingenstraße, über seine Familiengeschichte – über eine halbe Million Mal (Stand Januar 2020) wurden sie angeklickt.

Im Sommer 2015 ging Flade in Rente. Seine Arbeit geht weiter.

Literaturtipp

Lesen Sie Roland Flade! Hier finden Sie seine Bibliografie.


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2 Gedanken zu „Roland Flade, Historiker und Journalist“

  1. „Geschichtslaiinnen und -laien“, „Historikerinnen und Historiker“ und „Lai:innen“: Schon im ersten Absatz steige ich genervt aus, obwohl mich der Artikel über den tollen Historiker Roland Flade sehr interessiert hätte. Getoppt wird diese Genderunsinn von den „Augenzeug:innenberichten“. Der korrekte Begriff „Augenzeugen“ (Endsilbe „en“) wird völlig entstellt. Wenn man diesen Begriff laut liest (Augenzeug:innenberichten), versteht kein Mensch, was gemeint ist.

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    • Guten Tag, Steffen S.!

      Manchmal plage ich mich arg beim gendergerechten Schreiben. „Augenzeug:innenberichte“ zum Beispiel ist ein Wort, das mir beim Wiederlesen keine Freude macht. Ich werde das ändern.

      60 Jahre lang genderte ich kaum, nur in den 80erjahren habe ich es getan, etwa beim Verfassen von Flugblättern zum Volkszählungsboykott, Über die taz war damals die Idee vom Binnen-I ins Autonome Kulturzentrum Würzburg (AKW), wo ich zu Gange war, gekommen. Der Glottisschlag, die zwinkerkurze Pause zwischen Boykotteur und In, war noch nicht entdeckt.

      Wenn ich auf den zweiwöchentlichen Treffen der Volkzählungsboykotteurinnen und -boykotteuren – bis zu 250 Leute kamen da ins AKW – die neuen Flugblätter vorstellte und, der Kürze wegen, „Boykotteurin“ las, war mächtig was los. Zahlreiche Männer im Publikum reagierten empört und fragten, ob und warum sie nicht gemeint seien. Sie, Steffen S., werden ahnen, was die Frauen im Saal von dieser Empörung hielten.

      Bei Treffen von „Fridays for Future“, „Seebrücke Würzburg“ und anderen Initiativen junger Leute beobachtete ich, wie selbstverständlich und leicht sie gendern. Da konnte ich was lernen.

      Das konsequente Gendern eröffnet eine Welt, von der ich keine Ahnung habe. Bis dahin wusste ich zum Beispiel nicht, dass es nicht nur Laien gibt, sondern auch Laiinnen (www.duden.de/suchen/dudenonline/Laiin). Im Duden 1996 kommt die Laiin noch nicht vor, auch nicht im beispielhaften Gebrauch. Die Duden-Redaktion übersetzte das Worte „Laie“ aus dem Griechischen mit „Nichtfachmann“ und „Nichtpriester“. Beispielhaft für den Gebrauch nennt er den Laienprediger, aber nicht die Laienpredigerin, den Laienbruder, aber nicht die Laienschwester, den Laienprediger, aber nicht die Laienpredigerin. Als gäbe es keine Frauen.

      Ich arbeite seit einiger Zeit an einem Buch über Würzburg und den Nationalsozialismus. Das Gendern macht da viel Arbeit. Ein Beispiel aus meinen Recherchen zur Entwicklung des Antisemitismus: Im 19. Jahrhundert war die rechtliche Gleichstellung, die Emanzipation für Juden hart umstritten. Folgte ich dem generischen Maskulinum, hätte ich keine Arbeit. Gendere ich, geht’s los.

      Dann stelle ich fest, dass die rechtliche Gleichstellung von Jüdinnen nicht einmal diskutiert wurde und dass die christlichen Rechteinhaber auch den Christinnen die Bürgerrechte verwehrten. Und wenn ich wissen will, welchen Rechtsstatus die Christinnen hatten und ob und wie er sich vom Rechtsstatus der Jüdinnen unterschied, fängt die Arbeit erst an. Mit dem generischen Maskulinum verbergen die Historiker und auch viele Historikerinnen den Zugang zur Hälfte der Menschheit. Gendere ich, erfahre ich, dass Jüdinnen den Antisemitismus anders – und schärfer – erlebten als die Juden. Von den Jüdinnen ist in den meisten historischen Forschungen aber nicht die Rede.

      Ein anderes Beispiel ist, dass ich nicht wusste, dass und wie die Nazis den (deutschen, „arischen“) Frauen Rechte nahmen. 1935 änderten sie zum Beispiel die Gemeindeordnung so, dass Frauen das passive Wahlrecht bei Stadt- und Gemeinderatswahlen verloren. Genauer: Frauen konnten nicht mehr Mitglieder kommunaler Entscheidungsgremien werden.

      Wer tatsächlich tut, was er behauptet, nämlich beim generischen Maskulinum die Frauen mitdenkt, denkt oft und in fundamentalen Dingen falsch.

      Es gibt arg viele Gelegenheiten, bei denen das Gendern Fragen über Rechte, Aktivitäten, Erleben und Rollen von Frauen aufwirft. Über die Arbeit an ihnen wurde mir klar, warum es das generische Maskulinum überhaupt gibt.

      Mehr dazu habe ich in meinem Blog geschrieben: schreibdasauf.info/nieder-mit-dem-generischen-maskulinum

      Ich versichere Ihnen: An das anfangs Ungewohnte und Sperrige können Sie sich gewöhnen. Dann entdecken Sie die Geschichte der Frauen.

      Danke für Ihre Intervention und herzliche Grüße
      Wolfgang Jung

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