Meine Depression und ich

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Im November 2009 habe ich die Geschichte meiner Depression aufgeschrieben. Auslöser war der Suizid des Fußballers Robert Enke. Er hatte eine Depression und ist wohl auch daran zugrunde gegangen, dass er sich nicht offenbarte.

Ich halte den offenem Umgang mit der Krankheit für wichtig, auch als Prävention gegen den Suizid.

Mir geht es heute deutlich besser als zu der Zeit, in der ich die Geschichte aufgeschrieben habe. Weil aber sehr, sehr viele Leserinnen und Leser sich in dieser Geschichte wiedergefunden haben, veröffentliche ich sie hier, wie sie im November 2009 in der Main-Post erschienen ist.


Das Schwarze Tier kommt leise und unauffällig. Es holt mich. Es führt mich in eine Dämmerung hinein. Meine Kraft schwindet, meine Sinne werden taub. Es führt mich weiter in eine nachtschwarze Wüste, da bin ich gefangen. Ich höre nichts, sehe nichts, rieche nichts, schmecke nichts. Ich fühle nichts, ich bewege mich nicht. Ich weiß nicht, ob Tag oder Nacht ist, oder was jenseits der Wüste geschieht. Es ist mir gleichgültig. Mir ist alles gleichgültig. Die Zeit vergeht, ich habe keinen Begriff von ihr.

Die Wüste ist mein Leib. Das Tier kommt aus meiner Psyche. Ich habe eine Depression.

Ich litt lange unter depressiven Verstimmungen, ohne zu wissen, dass ich krank bin. Ich war antriebslos, mutlos, mir fehlte der Schwung. Was ich zuwege brachte, hielt ich für Mist. Ich meinte, ich müsse besser recherchieren, schreiben, zupacken können. Was ich konnte, galt mir nichts, was ich nicht konnte, hielt ich für entscheidend. Ich hatte Angst, den nächsten Termin nicht mehr zu bewältigen. Und hielt das alles für inakzeptable Schwächen, für Disziplinlosigkeit, schimpfte mich einen faulen Sack. Ich, ein Baum von einem Kerl, müsse doch alles mit Links erledigen können. Konnte ich nicht.

Ich erboste mich lange über Filmszenen wie diese: Ein Mann steht hinter Gittern, der Schlüssel zur Zelle hängt an der Wand, sein Wächter schläft. Der Gefangene greift nach dem Schlüssel, aber es reicht nicht; sein Arm ist ein, zwei Zentimeter zu kurz. Ich hielt solche Szenen für unrealistisch. Wenn man so nah rankommt, glaubte ich, dann schafft man das letzte Stückchen auch noch.

Ich lernte, dass ich es nicht schaffe.

Meine Arbeit war mir das Wichtigste, meine Beziehungen mussten zurückstehen. Die Bestätigung, dass ich gute Arbeit mache, half nur kurz oder gar nicht. Ich kam mit Lob nicht klar. Ich bildete mir ein, Lob schade mir, es verleite mich, nachzulassen. Kam keine Anerkennung, fühlte ich mich bestätigt: Meine Arbeit, das Wichtigste in meinem Leben, taugt nichts.

Es waren dunkle, lähmende Phasen, aus denen ich irgendwie wieder herausfand. Lebensgefährtinnen und Freunde halfen, auch Musik, Literatur und Theater, meine Leidenschaft für die X-Rays, die Basketballer.

1998 heuerte ich im Rathaus an, als Geschäftsstellenleiter des Ausländerbeirats. Drei unbefriedigende, bedeutungslose Jahre folgten; ich hielt die Langeweile nicht aus und kündigte. Aber ich war in eine Verstimmung geraten, aus der ich alleine nicht mehr herausfand. Trotz aller Not hielt ich diesen Seelenzustand für normal. Dann riet mir eine Freundin zu Johanniskraut. Sie hatte das Schwarze Tier erkannt: die Depression.

Ich nahm Dragees vom Johanniskraut, nach ein paar Wochen war ich wieder fit.

Ich weiß nicht mehr, wann es richtig schlimm wurde. 2006 erlebte ich die gloriose Fußball-Weltmeisterschaft nur gedämpft. Immerhin: Ein wenig ließ ich mich von der Euphorie in der Stadt anstecken, und dann verliebte ich mich auch noch. Das Wohlgefühl hielt nicht lange an. Ich wollte meinen Job so gut wie möglich machen, steckte alle Kraft in die Arbeit, für Zwischenmenschliches blieb nichts mehr übrig. Ich stand immer öfter in der nachtschwarzen Wüste, unfähig, mir über mich selbst im Klaren zu werden, und unfähig, meinem Umfeld etwas zu erklären. Ich ahnte die Depression, aber mir fehlte der Antrieb, Hilfe zu suchen. Ein Gedanke ging mir ständig durch den Kopf: Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr.

Ich schlug mich in diesen Jahren mit den Problemen herum, die einen freien Journalisten eben plagen: zu wenige und zu schlecht bezahlte Aufträge, nie ein Moment wirtschaftlicher Sicherheit. Ein Blatt, für das ich regelmäßig schrieb, senkte das Zeilenhonorar. Bei einem anderen war das Zeilenhonorar seit 1997 eingefroren. Ich konnte Geschichten an die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher und sonst wohin verkaufen, ein kleines Stück an die Spiegel, aber der Druck wuchs. Ich konnte mir keine Ausfälle leisten, aber je mehr mir meine Schwäche bewusst wurde, desto größer wurde der Druck.

Ich fühlte mich wie zerschlagen. Ich brachte angefangene Artikel nicht mehr zu Ende – keine Kraft, keine Ideen, keine Fantasie. Ich hatte das Gefühl, ich wiederhole mich nur noch, nichts werde besser. Ich ging immer öfter nicht ans Telefon, las meine Post nur unregelmäßig, manchmal gar nicht. Wenn ich nicht arbeitete, blieb ich zu Hause. Draußen riss ich mich zusammen, daheim hatte ich kaum noch Energie, mich meiner Lebensgefährtin zuzuwenden. Die Beziehung wurde schwierig. Meine Gefährtin klagte: „Ich vermisse Dich.“ Ich antwortete: „Ich vermisse mich auch.“

Irgendwann im Winter 2006 begann ich, mich nachts ans Mainufer zu setzen. Der Fluss war mir vertraut, ich nahm ihn mir zum Bruder. Seine Ruhe und seine Kraft, seine Stetigkeit beruhigten mich. Ich stellte mir vor, ich steige in ihn hinein und er trägt mich fort von allem. Ich malte mir aus, wie ich in ihm treibe und meine Lungen ihm öffne: Komm Bruder, vereinigen wir uns, bring mich heim.

Das war ein Wunsch, ein Bild aus dem Unbewussten. Leonhard Frank hatte in seiner „Deutschen Novelle“ über den Suizid eines lebensmüden Mannes geschrieben. Jetzt, beim Wiederlesen nach vielen Jahren, finde ich diese Stelle: „In Städtchen, die an einem Flusse liegen, wählen die Lebensmüden in der Regel nicht den Strick oder Gift. Der Onkel war am Fluss aufgewachsen, der Fluss hatte sein Gemüt mitgebildet von Kindheit an, er war ein Teil seines Daseins gewesen, der bessere Teil. Der Onkel ging in den Fluss, er ging heim.“

Ich hatte Hilfe dringend nötig, aber ich suchte sie nicht. Das ist das Verdammte an der Depression: Wenn sie dich im Griff hat, schaltet sie dir den Strom ab. Du bist zu erschöpft, um etwas zu unternehmen. So dachte ich auch nicht: Ich bringe mich um. Ich dachte passiv: Ich vergehe, ich löse mich auf.

Ich trennte mich von meiner Gefährtin. Ich ging Freunden und Bekannten aus dem Weg. Ich lag zu Hause auf dem Sofa, alle Rollos geschlossen. Ich passte das Äußere meinem Inneren an: Dunkelheit. Ich ließ den Fernseher flimmern ohne zu wissen, was läuft. Mein Job war eine einzige große Qual. Ich hatte Angst vor jedem neuen Auftrag, weil ich glaubte, ich könne ihn nicht bewältigen. Telefon und Post versetzten mich in Panikzustände. Ich gab Aufträge zurück. Ich konnte meinen Auftraggebern nicht sagen, was los ist. Ich schützte Erkältungen, Migräne, sonst was vor. Alles wurde immer schlimmer, ich war erstarrt. Es war, als würde mich ein Monstrum langsam ersticken, und ich hatte keine Waffe, um mich zu wehren. Ich war nicht mehr Herr meiner Selbst.

Mein bisschen Kraft und Lebensmut reichten, dass ich mich bis in den Mai 2007 nicht umbrachte. Da war ich für die Main-Post beim Africa Festival unterwegs, permanent überfordert, in der Hoffnung, dass niemand etwas von mir will. Dann läutete das Handy, ich nahm das Gespräch an, ein Kollege war dran: In der rechten Spalte der Festival-Seite sei noch Platz, ob ich ihm ein paar Zeilen mit Stimmen von Besuchern schicken könne.

Ich wurde panisch, glaubte: Das schaffe ich nie!, riss mich zusammen, sagte dem Kollegen die Zeilen zu. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich etwas unternehmen muss. Wenn ich diese journalistische Fingerübung nicht hinbekomme, bekomme ich gar nichts mehr hin. Ich lieferte – es war zu wenig, wenn ich mich richtig erinnere – und machte mich tags darauf auf die Suche nach einer Therapie.

Der Anfang war entmutigend. Wartezeiten von einem Vierteljahr und länger. Ich landete bei einem Psychotherapeuten, von dem ich nach den ersten Gesprächen glaubte, er habe noch größere Probleme als ich. Er merkte, dass wir nicht zusammenpassen; wir ließen es sein.   

Schließlich fand ich im Sommer 2007 eine gute Therapeutin. Sie diagnostizierte eine schwere Depression. Seitdem liege ich zweimal wöchentlich in ihrer Praxis auf der Couch, zur Psychoanalyse. Zusätzlich schlucke ich täglich Citalopram, ein Psychopharmakum.

Ich kam zu Kräften. Die Frau, von der ich mich im Frühjahr getrennt hatte, wollte es noch einmal mit mir riskieren – ein Glück. Ich reiste im Spätsommer an die portugiesische Westküste, zu einem langen, leisen Urlaub. Ich stand auf hohen Klippen, die Zehenspitzen überm Rand, genoss Sonne, Wind und Weite, schaute auf die Brandung hinunter, fand, das sei ein wunderbarer Ort zu sterben, und wollte leben.

In der Würzburg-Redaktion der Main-Post, mit der ich am engsten zusammenarbeitete, waren meine Ausfälle nicht unbemerkt geblieben. Im Herbst 2007, nach der Rückkehr aus dem Urlaub, ging ich in die Offensive: Ich wollte bessere Konditionen haben. Und offenbarte meine Krankheit, erst bei den Ressortleitern Michael Czygan und Rainer Stumpf, dann beim Chefredakteur Michael Reinhard. Ich erinnere mich gut an das Gespräch mit Reinhard. Ich wolle mehr Aufträge und besser verdienen, sagte ich, „obwohl ich weiß, dass ich in diesem Jahr nicht viel gerissen habe“. Warum nicht, wollte er wissen. Weil ich eine Depression habe, antwortete ich. Na, dann habe auch nicht mehr rauskommen können, sagte er.

Danach erklärte ich mich auch anderen Kolleginnen und Kollegen, wohl wissend, dass die Nachricht die Runde durchs Haus machen wird.

Und obwohl nun alle wussten, dass ich eine Depression habe und dass meine Leistungsfähigkeit zeitweise eingeschränkt ist, bot mir die Main-Post deutlich bessere Konditionen an. Ich unterschrieb.

Nach dem Antreten zur Therapie war das Outing mein zweiter wichtiger Schritt, um zu überleben. Nicht, dass mich jetzt wer in Watte packte, die Redaktion erwartet Leistung fürs Geld. Aber wenn mich jetzt das Schwarze Tier holt, kann ich die Karten auf den Tisch legen. Ich muss nicht lügen, muss nicht stärker tun, als ich bin, muss mir nicht noch mehr Druck machen, als ich eh schon habe. Von meinen Kollegen habe ich kein einziges Mal eine unpassende Bemerkung über meine Krankheit gehört. Das will was heißen, die Zartbesaiteten sind selten in dieser Branche. Möglicherweise machen hinter meinem Rücken Boshaftigkeiten die Runde, nicht alle sind sich grün. Aber die Situation ist gut so, wie sie ist. Ich habe meine Offenbarung nie bereut. Im Gegenteil: Sie hat mir das Leben einfacher gemacht.

Nach mehr als zwei Jahren Therapie bin ich immer noch nicht gesund. Es wird wohl noch Jahre dauern, bis ich das Schwarze Tier gezähmt habe. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich es schaffe.

Main, mein Bruder, Du musst ohne mich reisen.


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1 Gedanke zu „Meine Depression und ich“

  1. Lieber Wolfgang Jung,

    ich lese diese Geschichte heute zum ersten Mal…..ich finde sie sehr berührend, offen ohne Scheu und sie wird sicher vielen Menschen helfen, die auch die gleichen Probleme haben.
    Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie in der jetzigen Zeit nicht wieder damit kämpfen müssen.
    Ich habe und hatte das große Glück, dass ich noch nie in meinem Leben Depressionen erleben musste…auch nicht, wenn es Schwierigkeiten mit der Gesundheit, dem Beruf oder der Familie gab – dafür bin ich sehr dankbar.
    In Verbundenheit.

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