1945: Die Zerstörung Würzburgs am 16. März

Wie ein junges Paar die einzige Antwort auf den Wahnsinn des Krieges fand

Ortrun Körber im Jahr 1944.
Ortrun Körber im Jahr 1944. (Foto: Archiv Roland Flade)

1945 kommt der Frühling bald in die Stadt. Die Würzburger:innen genießen den 16. März. Die 19-jährige Ortrun Koerber schreibt in ihr Tagebuch: „Es ist ein schöner Tag, das Wetter ist besser geworden und keine Wolke steht am Himmel.“

Die junge Frau ist glücklich verliebt. Er heißt Carlo und ist Italiener; ein groß gewachsener Medizinstudent mit schmalem Gesicht und schwarzem Haar. Sie haben sich beim Granaten bauen bei Koenig & Bauer kennen gelernt. Carlo ist Zwangsarbeiter, Ortrun hat der Arbeitsdienst geschickt. Carlo darf sein Lager zwar verlassen, aber erwischen lassen darf sich das Paar nicht.

Dieser Freitag ist so sonnig schön, dass Ortrun und Carlo die Arbeit schwänzen. Sie habe keine Ahnung, notiert sie, „ob irgendjemand noch“ in der Rüstungsfabrik arbeite. Die Verliebten vertreiben sich mit Ortruns Familie die Zeit in einem Garten am Oberen Dallenberg. Die Stadt liegt ausgebreitet unter ihnen, hinter ihnen steht der Wald. Der Krieg scheint fern zu sein.

Das tödlichste Geschwader der Royal Air Force startet

Derweil, fast 1000 Kilometer nordwestlich, sammeln sich auf dem Flugplatz von Reading, nicht weit von London, Elite-Staffeln der Royal Air Force: 500 Flugzeuge der Bomber Groups No. 1, No. 8 und der No. 5, dem erfahrensten und präzisesten Geschwader im Luftkrieg gegen Deutschland. Die Bomber Group No. 5 hat am 13. Februar 1945 Dresden zerstört und etwa 25000 Menschen umgebracht. Sie starten um 17 Uhr.

Die Würzburger:innen ahnen nicht, was kommt. Ortrun schreibt in ihr Tagebuch: „Seit zwei Tagen hat es keinen einzigen Alarm gegeben. Es ist, als ob wir ein Picknick machen würden. Vielleicht ist der Krieg vorbei und wir wissen es nicht.“

Die junge Frau ist weitgereist. 1939 kam sie als 14-Jährige mit ihren Eltern nach Würzburg, nach neun Jahren in Japan. Sie spricht drei Sprachen, liest die englischen Klassiker im Original, spielt Klavier und verehrt Chopin, hat die halbe Welt gesehen und Freunde rund um den Globus. Kaum angekommen, erfasst sie die Stimmung im Reich der Nationalsozialist:innen: „Deutschland wirkt manchmal fast wie ein Gefängnis auf mich. (…) Hier ist alles so grau: der Himmel, die Häuser, sogar die Menschen.“

Im Juni 1940, noch bevor die deutsche Luftwaffe dichtbesiedelte englische Städte bombardiert, notiert Ortrun, sie wünsche den Engländern den Sieg. Jene, „die so grausam angegriffen wurden“, hätten das Recht, „wieder frei zu sein“. Ortrun ist zerrissen. Den Wunsch, dass ihr „Vaterland diesen Krieg verliert“, findet sie „schrecklich“.

Ein Teenager hört vom Judenmord in den Konzentrationslagern

In den Wochenschauen sieht sie, wie deutsche Truppen französische Dörfer „bis auf die Grundmauern niederbrannten. Überall lagen Tote in den Ruinen“. Sie starrt entsetzt „weiter auf die Leinwand. Polen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Holland, Frankreich – wird es niemals aufhören?“

Der Teenager leidet am dumpfen, vom Nationalsozialismus durchdrungenen Schulalltag. Sie hört von einem deutschen Offizier, im Warschauer Ghetto würden Tausende Menschen verhungern, und lernt einen 50-Jährigen kennen, der den Rücken voller Striemen und Narben hat, zugefügt in einem Konzentrationslager.

Im Oktober 1942 erscheinen ihr die Deutschen „sehr gut abgerichtet, denn sie nennen dies den idealen Staat“. Ihr fällt auf, dass keine Juden mehr auf den Straßen unterwegs sind und ist voller Sorge: „Was passiert mit ihnen? Wohin gehen sie?“

Zwei Monate später notiert sie ihren Schock, „als ich hörte, dass alle Juden, die in Deutschland leben, nach Polen geschickt wurden, wo sie mit Tausenden von polnischen Juden – Männern, Frauen und Kindern – getötet werden sollen“. Und schreibt weiter: „Gibt es denn gar nichts, was wir unternehmen könnten, um zu helfen? Oh, wie furchtbar sinnlos unsere Tränen sind!“

„Größte Gefahr für Würzburg!“

Ortrun hat sich nicht von ungefähr in einen Mann verliebt, der Hitler-Deutschland den Untergang wünscht, wie sie es tut.

Der Abend dämmert. Die Koerbers – Ortrun, ihre beiden Schwestern und ihre Mutter – sind mit einer Freundin und Carlo im Garten am Dallenberg geblieben. In der kleinen Hütte wollen sie die Nacht verbringen. Um 20 Uhr hören sie Sirenen heulen, aber die heulten in diesem Krieg schon über 300 Mal. Die Koerbers legen sich schlafen. Unten in der Stadt flüchten die Leute in die Keller und Luftschutzräume.

Gegen 21 Uhr trennt sich der englische Bomberverband über Crailsheim. 280 Maschinen fliegen zum Angriff nach Nürnberg, die 236 Maschinen der Bomber Group No. 5 nehmen Kurs auf Würzburg.

Um 21.07 Uhr erreicht eine Nachricht des Funk-Horch-Regiments West in Limburg/Lahn die Stadt: „Größte Gefahr für Würzburg!“

Morbides Licht und der Tod

Zuerst steckt ein Flugzeug, der „Zeremonienmeister“, das Zielgebiet ab. Um 21.25 Uhr werfen die Bomber „Christbäume“ ab, Leuchtzeichen, um die verdunkelte Stadt zu erhellen. Ihr „geisterhaftes Licht“, schreibt Ortrun drei Tage später auf, durchflutet auch die Hütte am Dallenberg. Die Koerbers wissen sofort, was los ist. In Todesangst laufen sie ins Freie.

Ab 21.35 Uhr fallen 256 mehrere Hundert Kilo schwere Luftminen auf Würzburg, die „Wohnblockknacker“, um die Häuser abzudecken, dann über 300.000 Stabbrandbomben.

„Wir lagen im feuchten Gras. (…) Es war so fürchterlich, der betäubende Donner der Bomben, das morbide, unnatürliche Licht und der Tod, der so nah war. Abertausende von Bomben wurden abgeworfen. Die Explosionen betäubten uns fast und ließen uns nach Luft schnappen.“

Carlo brüllt, es sei zu spät, um irgendwo anders hinzugehen, und dass ihnen hier nichts geschehen werde. Ortrun liegt nah bei ihm, sein Mut gibt ihr Kraft. „Aber auch er wusste“, notiert sie danach, „dass jeder Augenblick unser Leben beenden konnte“.

Die einzige Antwort auf den Wahnsinn

Und während ihre Welt explodiert, während 4000 Kinder, Frauen und Männer in einem unbeschreiblichen Inferno verbrennen, während Würzburg krachend, schreiend und heulend untergeht, finden die beiden jungen Leute die einzige Antwort, die es auf diesen Wahnsinn gibt: die Liebe. Sie küssen sich.

Nach siebzehn Minuten, um 21.42 Uhr, beendet die Bomber Group No. 5 das Bombardement und fliegt nach Hause. Noch aus 200 Kilometern Entfernung sehen die Piloten die Stadt brennen.

Würzburg, schreibt Ortrun, „verbrannte in einem Meer von Flammen. Riesige Wolken aus Feuer und Rauch stiegen aus der Stadt empor, sogar der Wald über uns brannte. Ein Sturm, so stark wie ein Orkan, tobte. Die ganze Nacht ließen die Detonationen der Zeitbomben unsere kleine Hütte erzittern, und die ganze Nacht kauerten wir da, so schreckerfüllt, dass wir nicht reden konnten.“

„Alles, alles ist zerstört. Würzburg ist tot“

Am darauffolgenden Morgen gehen die Koerbers in die Stadt hinunter. Die Häuser brennen noch, eine gigantische schwarze Wolke hängt über der Stadt. Sie kommen kaum durch. „Der Rauch machte uns blind und raubte uns den Atem. Alles was wir sahen, waren Ruinen und zwischen den Ruinen lagen die versengten und verbrannten Körper von Menschen, geschrumpft auf die Größe von kleinen Kindern, so entstellt, dass keiner sie hätte erkennen können.“

Am 19. März sitzt Ortrun vor der kleinen Hütte im Garten über ihrem Tagebuch, lässt sich von der Sonne wärmen, lauscht den Lerchen und will glauben, dass das Erlebte nur ein Albtraum war. Dann schaut sie auf und sieht auf das, was einmal Würzburg war: „graue Ruinen, die nach drei Tagen noch schwelen“. Sie sucht Kuppeln und Kirchtürme, vergeblich. „Alles, alles ist zerstört. Würzburg ist tot.“   

Literaturtipp

Ortrun Scheumann: „Geliebte Feinde. Ein Mädchen erlebt das ,Dritte Reich‘ in Würzburg“. Übersetzt und herausgegeben von Roland Flade als Band 9 der Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, erschienen im Verlag Ferdinand Schöningh, Würzburg.


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