Die Hölle im Frauenland: das Gestapo-Notgefängnis

Wie die Gestapo Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen folterte und henkte und die Würzburger:innen alles vergaßen

Der Mann von der Friedhofsverwaltung ist im Lager, er holt die Leiche einer Polin ab. Er sieht die Male an ihrem Hals, vermutet, sie wurde erhängt. In einer nahen Baracke hört er eine Frau, ein  „furchtbares Schreien und Jammern“, wie nur ein Mensch schreit, „wenn er misshandelt wird“.

Das Lager, vier Holzbaracken und ein steinernes Wachhaus auf 6000 Quadratmetern, gesichert mit einem doppelten Stacheldrahtzaun, steht auf einer Brache im Frauenland, 100 Meter längs der Friesstraße, 60 Meter längs des Zwerchgrabens.

Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) nennt es Notgefängnis. Seit dem 1. September 1942 schindet sie hier Gefangene, für die kein Platz ist im überfüllten Gefängnis in der Ottostraße.

Der Leichenabholer kommt oft vorbei. Er schafft Tote nach Heidingsfeld, wo sie anonym auf dem Friedhof beerdigt werden, und ins Anatomische Institut der Uni Würzburg. Von manchen Toten fehlt jede Spur.

„Wie aus den Abgründen der Unterwelt“

Nach dem Krieg hält das Tribunal Général in Rastatt Gericht über NS-Verbrecher. Die Ankläger schicken Capitaine Gaston Plehiers nach Würzburg. Er weist 152 getötete Gefangene nach, unter ihnen Opfer des britischen Luftangriffs vom 16. März 1945. Weil die Akten lückenhaft sind, vermutet er, dass die Zahl der Nazi-Polizei größer ist.

Im Juli 1947 berichtet die Main-Post über einen Prozess vor der Spruchkammer III in Würzburg gegen den Verwaltungsleiter des Notgefängnisses, Stefan Schäfer: „Wer die Verhandlung, zu der 70 Zeugen geladen waren, bis zum Ende miterlebte, war erschüttert von dem Martyrium wehrloser Menschen, die als Häftlinge des Würzburger Notgefängnis Hunger, Frost und körperliche Misshandlungen erdulden mussten. In diesem Gefängnis, das der Würzburger Gestapo unterstand, in welchem Fremdarbeiter aller Nationen und auch Kriegsgefangene inhaftiert waren, spielten sich täglich Szenen ab, die wie aus den Abgründen der Unterwelt anmuten.“

Die Sache mit den KZ-Häftlingen

Dann beginnt das Schweigen. Die Stadt baut auf das Lager-Gelände die Franz-Oberthür-Schule. Würzburg verdrängt die Erinnerung an das Gefängnis und vergisst es schließlich.

Ab 2001 erinnert der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Jörg Skriebeleit mehrfach an KZ-Häftlinge, die 1943 ein halbes Jahr lang im Notgefängnis eingesperrt waren.

2013 starten Alexander Kraus, Helmut Försch und Peter Hulansky von der Geschichtswerkstatt im Verschönerungsverein umfangreiche Recherchen. 2015 legen sie die Ergebnisse in einem 48-seitigen Heft vor. Es ist ein nüchtern geschriebener, detail- und faktenreicher grauenvoller Bericht, in wesentlichen Teilen gestützt auf Ermittlungs- und Gerichtsakten im Staatsarchiv Würzburg.

Warten auf die Hinrichtung

Wie viele ausländische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter:innen und von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) rekrutierte „Fremdarbeiterinnen“ und „Fremdarbeiter“ einsitzen, ist ungewiss. Verwaltungsleiter Schäfer kommt in seiner Aussage vor Gericht auf höchstens 200 Gefangene, Capitaine Plehiers geht von 350 bis 400 Männern und Frauen aus.

Alexander Kraus sagt, auch nach zwei Jahren Recherche seien die Zahlen vage wegen der unvollständigen Akten und widersprüchlicher Zeugenaussagen.

Die Gefangenen verbüßen Haftstrafen, sind Untersuchungs- oder Schutzhäftlinge, warten auf den Weitertransport in ein Konzentrationslager oder auf ihre Hinrichtung.

Ganz andere Gefangene kommen nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944: Stauffenberg-Sympathisanten und Widerständler wie der spätere CSU-Gründer Adam Stegerwald und der Schriftsteller Leo Weismantel. Die Geschichtswerkstatt räumt ihnen nur wenig Platz ein. Kraus begründet, die Gestapo habe die prominenten deutschen Häftlinge deutlich weniger geschunden als die namenlosen Gefangenen aus halb Europa.

Die Folter beginnt

Um die Neuankömmlinge, ob Mann oder Frau, kümmern sich Kalfakter – polnische, russische und ukrainische Häftlinge in Diensten der Gestapo. Sie scheren die Häftlinge kahl und peitschen sie mit dem Ochsenziemer aus, mit fünf bis 25 Hieben auf das Gesäß, je nachdem, wie viele die Gestapo anordnet. Wer sich wehrt, büßt mit noch mehr Hieben. Wer aus dem Lager entlassen wird, erfährt die Tortur zum Abschied ein zweites Mal.

Die Geschichtswerkstatt berichtet, Überlebende bezeugten nach dem Krieg vor Gericht blutunterlaufene Schwielen, Blutergüsse und offene Wunden am Gesäß, „die äußerst schmerzhaft gewesen sein mussten“.

Das Leben in den Baracken ist hart. Plehiers zufolge sind die Holzbauten etwa 50 Meter lang und sieben Meter breit. Als Provisorium gebaut, werden sie zur Dauereinrichtung. Die Geschichtswerkstatt vermutet, die Ähnlichkeit mit einem KZ ist gewollt.

Fünf Handtücher für 200 Häftlinge

Baracke I hat einen Vorraum mit einem Spül- und einem Waschplatz, zwei kleine Zimmer und den Haftraum, der etwa ein zwei Drittel der Gesamtfläche ausmacht. In seiner Mitte steht eine Bretterkonstruktion, auf der die Häftlinge in zwei Reihen schlafen, ohne Matratze oder Strohsack, Kopf an Kopf, dicht an dicht, mit 50 Zentimetern Platz für jeden.

Verwaltungsleiter Schäfer behauptet vor Gericht, die Baracken seien mit gusseisernen Öfen beheizt worden. Ehemalige Häftlinge widersprechen. Die Geschichtswerkstatt hält für möglich, dass die Zahl und Leistung der Öfen nicht reichte. Jeder Gefangene muss mit einer Decke auskommen, auch in kalten Winternächten.

Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Die Häftlinge besitzen nur einen Satz Kleidung und ein Paar Schuhe. Was kaputt ist, wird nicht ersetzt. Viele gehen barfuß und in Lumpen. Die Würzburger:innen wissen Bescheid, sie sehen die erbarmungswürdigen Gestalten auf dem Weg zwischen Lager und Arbeitseinsatz. Wer hilft, begibt sich in Gefahr. Helfen ist verboten. Die Häftlinge bekommen keine Seife. 150 bis 200 Leute teilen sich fünf Handtücher.

Wahnsinn und Schmerzgeschrei

Die Gewalt ist allgegenwärtig. Die Kalfakter foltern und richten Gefangene hin. Sie köpfen sie oder hängen sie auf. Wer auf der Flucht erwischt wird, wird erschossen.

Der Schriftsteller Weismantel berichtet, dass in in der Baracke IV weibliche Gefangene „wie Vieh auf Streu liegen. Etliche waren schon wahnsinnig geworden, und der Wahnsinn schrie jeden an, der hier vorüber musste. – Sie rüttelten an den Verschlägen, schrien um Hilfe, flehten uns Ohnmächtige an, sie freizulassen!“ Er hört „vom Morgen bis zum Abend (…) das Geschrei der Gestapomänner“ im Verhörraum, „das Geknalle der Peitschen über den Köpfen der Gefangenen, deren Schmerzgeschrei.“

In den Baracken II und IV hat die Gestapo Vernehmungszimmer eingerichtet. Dass in beiden Fällen auf der anderen Seite des Flurs ein Arzt stationiert ist, ist sicher kein Zufall.

Der Kunsthistoriker Kurt Gerstenberg, wie Weismantel nach dem Hitler-Attentat als NS-Gegner inhaftiert, schreibt,  „wir mussten auch mitanhören, wie die armen Russen und Polen im Nachbarlager von der SS geprügelt wurden, manchmal bis ihr Schreien in Röcheln überging“.

Kraus vermutet, dass Gerstenberg SS und Gestapo verwechselt, denn seit dem Abzug der KZ-Häftlinge im Herbst 43 hat die SS mit dem Notgefängnis nichts zu tun.

Ein Boxer mit gewissem Ruf

Leiter des Notgefängnisses ist der Kriminalinspektor Michael Völkl, in der Würzburger Gestapo-Hierarchie verantwortlich für Juden und Kirche, Notgefängnis und Ostarbeiter. Er hat nicht viel Zeit für das Lager im Frauenland. Völkl organisiert die Deportation der jüdischen Mainfranken in die Konzentrationslager.

Im Lager führen stellvertretend für die Gestapo-Beamten brutale Handlanger das Regime, wie der Verwaltungsleiter Schäfer. 1947 beschreibt ihn die Main-Post als einen, der keine fachlichen Voraussetzungen mitbrachte. „Aber er genoss als Boxer einen gewissen Ruf und seine Kraftnatur, seine athletische Erscheinung, ließen ihn in den Augen seiner Auftraggeber wohl besonders geeignet erscheinen.“

Nach dem Krieg werfen ihm die Ermittler unter anderem vor, vier Holländerinnen vergiftet zu haben.

Kalfakter bewachen, schinden und töten ihre Mithäftlinge für Geld und Lebensmittel. Im Lager bewegen sie sich frei, draußen stehen sie unter der Fuchtel der Gestapo.

„Nur noch Haut und Knochen“

In der Ludwigstraße, in der Zentrale der Gestapo, sitzt Otto Gorr, den die Geschichtswerkstatt einen Schreibtischtäter nennt. Gorr ist zuständig für die Lebensmittelversorgung im Lager. Nach den allgemeinen Verpflegungssätzen stehen den Gefangenen etwa zwei Drittel der – bei einem normalen Leben nötigen – Tagesration zu. Die Gefangenen aber verrichten zwölf Stunden täglich schwere und schwerste Arbeit, in der Nachtkälte kühlen sie aus. Trotzdem halbiert die Gestapo die Rationen. Gorr schmälert das Wenige weiter; er kassiert Lebensmittel für eigene Zwecke ein.

Die Gefangenen verhungern; wie viele, ist unbekannt.

Der Leichenabholer von der Friedhofsverwaltung sagt 1947 als Zeuge aus: „Bei der Abholung einer Leiche musste ich in die Baracke, wo die Häftlinge sich aufhielten. Der Anblick dieser Unterkunft war furchtbar. Die Häftlinge lagen in alten schmutzigen Decken und Kleidungsstücke eingehüllt auf den Pritschen. Hie und da schaute einer der Häftlinge unter seiner Decke hervor, die Gesichtsausdrücke selbiger waren furchtbar abgemagert, teils verhungert einem Toten ähnlich. Durch meinen Beruf habe ich schon viel gesehen, aber derartiges doch noch nicht. Die Leiche war nur noch Haut und Knochen, vermutlich verhungert, das Gewicht (selbige habe ich eingesargt) circa 50 bis 60 Pfund. Diese Leiche saß in Hockstellung in der Unterkunft.“

Im Kugel- und Bombenhagel

Im Februar 1945 greifen alliierte Bomber zum ersten Mal das Lager an; sie treffen eine Baracke mit einer Stabbrandbombe. Häftlinge flüchten aus dem brennenden Bau und werden von den Wachmannschaften erschossen. Andere verbrennen bei lebendigem Leib.

Wie viele sterben bleibt ungeklärt, ebenso die Zahl der getöteten Gefangenen vom 16. März 1945.

Die Geschichtswerkstatt hält 120 Tote, gestorben im Feuer oder im Kugelhagel der Wachmannschaften, für möglich. Sie bezieht sich auf den Bericht einer Zeugin, die gesehen haben will, wie so viele Leichen in einen nahen Bombentrichter geworfen wurden. Das mutmaßliche Massengrab wird nicht gefunden.

Völkl plant ein Massaker

Nach dem Angriff ist das Lager zerstört, etwa 130 Männer und Frauen überlebten. Die Gestapo treibt sie auf den Sportplatz des Post SV in der Richard-Wagner-Straße. Am 17. März entlässt sie 60 Gefangene in die Freiheit.

Schäfer, der mit seiner Frau die Vereinsgaststätte des Post SV betreibt, bringt die verbliebenen 72 Häftlinge auf dem Vereinsgelände unter. In den folgenden Tagen müssen sie in der zerstörten Stadt Schutt und Trümmer räumen.

Ende März rückt die US-Armee gegen Würzburg vor.

Die 72 sind in höchster Gefahr. Gestapo-Chef Völkl fürchtet ihre Zeugenaussagen vor den siegreichen Alliierten. Er weist die Kalfakter an, Löcher in die Ecken der Gefangenen-Baracke zu graben und mit einem Zentner Dynamit zu füllen. Er will die Gefangenen in die Luft jagen.

Ein Verbrecher wird zum Retter

Die Geschichtswerkstatt schreibt: „In dieser Situation folgt nun Schäfers einzig anzuerkennende Tat.“ Am 30. März, der Nacht des geplanten Massakers, schenkt er Völkl so lange Sekt und Cognac ein, bis der betrunken unter dem Tisch liegt.

Schäfer gräbt das Dynamit aus, versteckt es, lässt die Gefangenen frei und flieht. Nach dem Krieg verhaftet, erzählt er den Ermittlern die Geschichte. Sie finden tatsächlich das verborgene Dynamit und die Zündschnüre.

Völkl, der Lagerleiter, nimmt sich nach dem Krieg das Leben. Sein Verwaltungschef Schäfer kommt mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren davon. Ob er die Strafe vollständig verbüßt hat, weiß die Geschichtswerkstatt nicht. Gegen Gorr wird nicht ermittelt.

Literaturtipps

Geschichtswerkstatt im Verschönerungsverein Würzburg: Das Gestapo-Notgefängnis in der Friesstraße. Ohne Verlag, 2015

Hahn, Leo: Kriegsgefangene und Fremdarbeiter in Würzburg. Erschienen 2005 im Selbstverlag

May, Herbert: Zwangsarbeit im ländlichen Franken.Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums in Band Windsheim, Band 54. Erschienen 2008

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